Tod im Minenfeld: Ratten sind die besten Retter

Täglich sterben sie oder werden verstümmelt in den 70 minenverseuchten Ländern dieser Welt – Tausende von Menschen, zahllose Nutz- und Wildtiere. Die menschengemachten Tiertragödien mit ihrem unsäglichen Leiden werden kaum je thematisiert. Magawa, eine Riesenratte aus Tansania, macht jetzt auf das verdrängte Problem aufmerksam.

Gut trainiert hat sie Dutzende Sprengkörper erschnüffelt und damit unbeschreibliches Leid verhindert. Nun wurde sie mit einer britischen Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet. Was witzig tönt, hat einen todernsten Hintergrund. Denn es werden wieder mehr Sprengfallen ausgelegt. Auch in Afrika, dessen alte und nicht markierten Minenfelder die Wildtiere selbst in Friedenszeiten töten. Magawa und ihre Artgenossen halten dagegen. Als die besten Räumkommandos – und mit Hilfe motivierter Menschen und der Schweiz.

Von Ruedi Suter – FSS

Sie ist eine hübsche Tansanierin, mit gescheiten Augen und langen Schnauzhärchen auf der Spitznase. Und sie hat Grosses geleistet – als Afrikanische Riesenhamsterratte. Sie heisst Magawa und hat sich wohl als erste Ratte überhaupt einen Orden erworben – die britische «Goldmedaille für lebensrettende Tapferkeit».

Weshalb? Weil die 2014 im tansanischen Morogoro geborene und trainierte Magawa in kambodschanischen Minenfeldern nahe der Stadt Sieam Reap bislang um die 70 lebensgefährliche Sprengkörper erschnüffelt hatte. Alle wurden entschärft, und das mit zahlreichen Minenfeldern geplagte Kambodscha hatte 70 Tote und Verletzte weniger zu beklagen 

HeroRATS aus Tansania

Was für eine Leistung! So staunten in England auch die Verantwortlichen der Tierschutzorganisation «People's Dispensary for Sick Animals». Die PDSA verleiht die 1943 von der Tierliebhaberin Maria Dickin erfundene Auszeichnung «Dickin Medal», dem militärischen Gegenstück des an Soldaten verliehenen «Victoria Cross». Tiere mit heroischen Taten im Zivilbereich erhalten seit 2002 die «PDSA Gold Medal», welche Magawa um den struppigen Hals gebunden erhielt.

Aufgezogen und monatelang trainiert wurde die jetzt berühmte Riesenhamsterratte mit ArtgenossInnen zusammen im zentraltansanischen Morogoro. Dort begann 2000 der belgische Punk und Rattenfreund Bart Weetjens mit dem Training der heute liebevoll «HeroRATS» genannten Nagetiere. Unterdessen werden sie von Apopo gezüchtet und trainiert, einer belgischen Organisation, die afrikanischen und asiatischen Staaten ihre vierbeinigen Räumkommandos zur Verfügung stellt. 

Training-Terrain: Riesenhamsterratte übt im verminten Kambodscha: | © Foto Gian Schachenmann

Intelligente Schnüffeljäger

Riesenhamsterratten wie Magawa oder die ebenfalls berühmt gewordene Miss Marple haben beim Aufspüren von Sprengkörpern ausschlaggebende Vorteile gegenüber technischen Such- und Räumungsmitteln oder Hunden, die viel schwerer sind und jederzeit Minen auslösen können. Dagegen trippeln die katzengrossen, vorwiegend vegetarisch lebenden Nagetiere mit ihren höchstens 2,5 Kilogramm leichtfüssig über die im Boden vergrabenen Sprengfallen.

Die bis zu 8 Jahre alt werdenden «HeroRATS» sind überall einsetzbar, gut transportierbar und bei Aufzucht, Training und Haltung wesentlich kostengünstiger. Weitere Vorzüge: Ein hoch entwickelter Geruchssinn, intelligent und einfach zum Züchten und Trainieren. 

HeroeRAT Miss Marple: Erst-Auftritt vor verdutzter Dorfbevölkerung in Mosambik |© Screenshot , Tierwelt

110 Millionen Minen in 70 Staaten

Magawa schaffte es jedenfalls auch, die Welt auf eine ihrer schlimmsten, von Menschen gemachten Geisseln aufmerksam zu machen.

Wieviele Minen genau herumliegen, das weiss kein Mensch. Die UNO schätzt, dass auf unserem Planeten in über 70 Staaten rund 110 Millionen Landminen und Blindgänger versteckt sein müssen. Unter der Erdoberfläche, im Gras, an Büschen oder in Hütten und Häusern – irgendwann einmal vorsichtig platziert von Terroristen, Guerillas, Milizen oder Soldaten.

Moderne Armeen können bei der sogenannten «Fernverlegung» ihre Antipersonenminen auch per Raketenartellerie verschiessen. Gewisse Minentypen werden zudem aus Flugzeugen abgeworfen. Detonieren Sprengkörper (Submunition) von Streubomben beim Aufschlag nicht, liegen sie herum und wirken wie Antipersonenminen: Sie detonieren bei der Berührung durch Menschen – oder durch die Bewegung von Tieren.

Teurer "aufwändiger als eine Ratte: Ferngelenkter Minenräum-Panzer in Syrien | © Foto: Министерство обороны Российс, Mil.ru, CC-BY 4.0, Wikipedia

Minen töten auch im Frieden

Geht eine Mine hoch, ist es zu spät. Es gibt Tote und Verletzte. Jährlich sterben Tausende Menschen an den Folgen dieser heimtückischen Waffen. Vor allem Kinder, aber auch zahlreiche Frauen und Männer. Allein in Angola leben über 100'000 Kinder, Frauen und Männer mit Amputationen.

Noch drohen Hundertausende vergrabener Minen aus vergangenen Konflikten. Sie alle zu finden und zu entschärfen dürfte noch Jahrzehnte dauern. 

Wieder steigende Minenopfer

Vor dem Verbot der Antipersonenminen von 1999 (Ottawa-Konvention) tötete oder verstümmelte die billige Waffe jährlich über 20'000 Menschen, zumeist Landbewohner. 2014 forderte sie «nur» noch etwa 4'000 Opfer, pro Tag im Durchschnitt 10 Tote und Verletzte.

Wie der «Landmine Monitor» der Internationalen Kampagne für das Verbot von Landminen feststellt, hat sich 2018 die Zahl der Toten und Verletzten wieder auf 7'000 (erfasste) Opfer erhöht. Bürgerkriege wie jene im Jemen, Irak und in Syrien trugen zur Steigerung bei.  

Minenopfer: Kurdisches Mädchen mit Mutter: Kurdistan Irak, 1991 | © Foto Ruedi Suter

Niemand zählt die Opfer unter den Tieren

Was fehlt, sind Statistiken zu den ahnungslosen Opfern der Tierwelt. Über sie gibt es keine Zahlen. Dabei trifft es Haus- und Nutztiere ebenso wie die Wildtiere.

In Angola oder Mosambik zum Beispiel haben bereits um die Jahrtausendwende zahlreiche Bauern und Viehhalter aufgrund nicht markierter oder nicht abgesperrter Minenfelder ihre Lebensgrundlage verloren: Viehherden, Reit-, Last-und Zugtiere.

Ganze Rinderherden fliegen in die Luft

Bekannt wurde damals der begüterte Bauer Phineas Chisandako. Ihm sind innert 20 Jahren 116 Rinder und weit über 100 Ziegen buchstäblich in die Luft geflogen.

An einem einzigen Tag wurden ihm 16 Tiere zerfetzt, weil sie geradezu magisch von dem saftigen und schier unbegrenzt vorhandenen Gras in einem Minenfeld angezogen wurden, berichtete die Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ).

Nach der ersten Detonation stürmen die Tiere oft panikartig davon - noch tiefer ins Minenfeld, aus dem sie nicht mehr lebend herauskommen. Am Ende blieb dem verzweifelten Chisandako gerade noch eine einzige Kuh von seiner über hunderte Tiere zählenden Herde.

Sichergestellte Sprengkörper: Noch drohen geschätzte 100 Millionen versteckte Minen | © Foto APOPO

Explosive Wanderrouten und Tränken

Vor den insgesamt rund 700 verschiedenen, industriell gefertigten Minentypen bleibt auch das ohnehin von allen Seiten bedrohte Wild nicht verschont, rief schon 2000 die Schweizer «Stiftung Welt ohne Minen» (WOM) in Erinnerung.

Die Wildtiere treten auf ihren Wanderungen, bei der Nahrungssuche oder beim Gang zum Durstlöschen auf Tretminen, die ihnen die Beine wegreissen. Oder sie stehen auf Splitterminen, die ihre Opfer mit Tausenden kleinen und vorgeformten Metallsplittern durchbohren. Oder sie lösen Springminen aus, die in die Höhe schnellen, Hunderte kleiner Projektile verschleudern und im Umkreis von 25 Meter alles umbringen.

Gesprengte Schneeleoparden, Gazellen, Gorillas

«Weltweit fordern Landminen eine hohe Zahl an Opfer bei wild lebenden Tieren; seien es Elefanten in Afrika oder Sri Lanka, Gazellen in Teilen Libyens, Schneeleoparden in Afghanistan oder Silberrücken-Gorilla-Männchen in Ruanda», umschreibt der australische Landminenexperte Bruce Gray die perversen Folgen des menschlichen Vernichtungswillens auf die Tierwelt. 

Minenräumspezialist in gefährlicher Mission: Nach den Ratten arbeiten die Menschen | © Foto APOPO

Besonders betroffen ist das Wild im tierreichen Afrika. Lang andauernde Kriege wie etwa in Angola, Liberia, Sierra Leone, den beiden Kongo-Staaten, Sudan und Somalia verwandelten ganze Regionen in minenverseuchte Todeszonen, die bis heute Leben gefährden.

Neuerdings werden wieder in Nigeria von Boko Haram selbst gebastelte Minen eingesetzt. Auch ist damit zu rechnen, dass Sprengkörper in jüngeren Kriegsgebieten wie die nördlichen Teile Äthiopiens (Tigre) und Mosambiks (Provinz Cabo Delgado) eingesetzt werden.

Grosstiere verenden besonders qualvoll

Verminte Landschaften haben auch zur Folge, dass die Elefantenherden ihre über Generationen hinweg begangenen Wanderwege nicht mehr benutzen können. Jährlich sterben in dem Todesstreifen fünf bis zehn Elefanten nach der Explosion einer Mine. 

Aber auch andere Tiere sind ihrer natürlichen Wanderrouten beraubt. Zahlreiche Büffel wurden schon von Minen getötet. Sie wie auch Elefanten und andere Grosstiere wie Giraffen verenden besonders qualvoll, da sie aufgrund ihrer Grösse und ihres Gewichts schwer verletzt werden und nur selten sofort tot sind.

Die grössten Minenopfer in Afrika und Asien: Elefanten (in der minenfreien Serengeti) | @ Foto Ruedi Suter

Riechen Elefanten Sprengstoff?

Beobachtungen im teils verminten Südangola zeigen interessanterweise, dass Elefanten bei ihrer Rückkehr aus Botswana kaum mehr Minen auslösen. Einheimische wie Elefantenexperten vermuten nun, dass die die intelligenten Rüsseltiere vergrabenen Minen ausweichen – dank ihres guten Riechsinns und den traumatischen Erfahrungen von früher. Minensuchtrupps benutzen jedenfalls vermehrt die sicheren Trampelpfade der grauen Riesen.

Nie zur Kenntnis genommene Tiertragödien

Im Nachtteils sind jedoch die zahllosen kleinerer Tiere, die durch Minen verletzt und getötet werden. Ihre mit Bestimmtheit hohe Zahl bleibt im Dunkeln. Wer will und kann sie schon zählen? Zum Beispiel die Tierkadaver im verminten Gebiet des Dreiländerecks Simbabwe-Mosambik-Südafrika? Die Toten locken Scharen hungriger Fleisch- und Aasfresser an. Diese lösen dann selber Explosionen aus, werden verletzt oder gleich sofort getötet. Tiertragödien, die nie zur Kenntnis genommen werden.

Voller Minen: Viel Arbeit für die HeroRATS im Sengwe-Korridor | © Karte Peace Parks, FSS

Lebensgefährliche Wanderrouten im südlichen Afrika

Minen verhindern auch, dass einer der grössten Nationalparks Afrikas zügig entstehen kann. Das internationale Peace Parks-Projekt möchte mit Regierungsbeteiligung und weiteren Organisationen den südafrikanischen Krüger-Nationalpark mit dem angrenzenden Gonarezhou-Nationalpark im äussersten Südosten Simbabwes und entlang der traditionellen Wildwechsel durch Mosambik zum grössten Naturschutzpark der Welt zusammenlegen.

Ein schwieriges Unterfangen, da beispielsweise die Grenzminenfelder aus dem simbabwischen Befreiungskrieg (1974-1977) bis heute nicht geräumt werden konnten.

Ein 37 Kilometer langes Minenfeld im sogenannten Sengwe Wildlife Corridor versperrt Menschen den Aufenthalt und Tieren die lebenswichtige Verbindung zwischen dem simbabwischen Gonarezhou- und dem südafrikanischen Krüger-Nationalpark. 

Der Limpopo: Grenzfluss, der durch den minenverseuchten Sengwe-Korridor fliesst | © Foto Peace Parks

Die Schweiz finanziert HeroRATs in Simbabwe

Mit Hilfe der USA und der Schweizer Botschaft in Harare beginnen nun diesen Januar die tansanischen Riesenhamsterratten von Apopo das Gebiet zu säubern. Bis 2025 sollen die HeroRats den minenverseuchten Korridor frei geschnüffelt haben.

Dies wäre gleichzeitig ein riesiger Gewinn für den 2002 beschlossenen Great Limpopo Transfrontierpark (GLTP), der sich als das dann weltgrösste Naturschutzgebiet von schliesslich 100'000 Quadratkilometer über Südafrika, Mosambik und Simbabwe erstrecken soll. Ein Traum, der trotz Übervölkerung, Klimawandel und kriegerische Konflikte Realität werden möchte.

Neue Beziehung: Die intelligenten Antiminen-Ratten erobern menschliche Herzen | © Foto APOPO

HeroRATS wie die Medaillenträgerin Magawa werden noch sehr viel zu tun haben. Ihre Räumkommandos sollen fortlaufend mit neu trainierten Artgenossen aufgestockt werden. Für den Einsatz in aller Welt. Aber indirekt auch für ein besseres Renommee bei uns Menschen. Ratten sind nicht einfach unheimlich oder «eklig», sie lernen und retten zahlreiche Tier- und Menschenleben. Wie Magawa, die Tapfere. 

TITELBILD: Magawa, die mit dem Tapferkeitsordner ausgezeichnete Riesenhamsterratte | © Foto PDSA

Zurück
Zurück

Risiko: Im Heli über den Kilimanjaro

Weiter
Weiter

Sensibilisierung: Stopp mit dem Plagen von Wildtieren